Einmal im Monat bietet der Mennonitische Geschichtsverein Zoom-Veranstaltungen zur täuferischen Familienforschung an. So auch im Juni. Am Montag, dem 05.06.2023 berichtete Sigrid Wiebe über die Geschichte ihrer Familie Harms-Güth in Westpreußen, über die Ausreise 1946 nach Lübeck, über die Gründungszeit der mennonitischen Gemeinde in Lübeck, die Jugendarbeit und die amerikanische Aufbauhilfe durch den MCC und die Pax-Boys.

Sigrids Vorfahren Harms kamen wahrscheinlich Anfang des 17. Jahrhunderts aus Emden, als dort den Täufern die öffentliche Religionsausübung verboten wurde, in das Gebiet um den Fluss Nogat im späteren Westpreußen. Sigrids mennonitischer Großvater Johann Harms heiratete 1898 die Mennonitin Elise Dyck in Wengelwalde nahe des Drausensees und bewirtschaftete zunächst den Hof der Schwiegereltern. 1910 kaufte er den Hof in Güldenfelde zwischen Marienburg und Elbing, auf dem Sigrid 1941 und ihr Bruder Hans Werner Harms 1942 geboren wurden. Zuletzt umfasste der Hof 65 ha. Großvater Harms war Bürgermeister des kleinen Ortes mit 12 Bauernhöfen. Wichtig war die Pflege der Gräben, Deiche und Kanäle zur Entwässerung des flachen Landes. 1888 hatte ein Deichbruch die ganze Region am Nogat überflutet. Vater Herbert Harms heiratete 1939 die evangelische Nachbarstochter Elfriede Güth, wurde sofort eingezogen in den 2. Weltkrieg und wurde nur zeitweise freigestellt für die Arbeit auf dem Hof. Die Familie gehörte der Mennonitengemeinde an, wie auch Sigrids Onkel Erich Harms, der in Lübeck Kreistierarzt war.

1941-1944 war ein polnisches Mädchen aus Thorn zur Hilfe im Haushalt kriegsverpflichtet, das in den 1980er-Jahren die Familie Harms in Lübeck wiederfand und zu Besuchen nach Polen einlud. Im Januar 1945 wurden alle Höfe von plündernden und gewalttätigen russischen Soldaten besetzt. Die Familie blieb trotz gepackter Wagen, weil anderen Familien das Durchkommen nach Westen nur teilweise gelang, wie man hörte, und weil Großvater Harms sich als Bürgermeister in Güldenfelde verantwortlich fühlte. Man zog auf den Hof des mütterlichen Großvaters Otto Güth, der einen polnischen Mitarbeiter Pius hatte, der übersetzen konnte und bald den Hof für sich beanspruchte. Großvater Güth erhielt für Hilfen bei den ankommenden polnischen Siedlern beim Melken, Kalben oder Schlachten Brot, Kartoffeln und Milch und schon mal einen Rinderkopf.

Im August 1946 erhielten alle Deutschen im Dorf den Befehl, das Land zu verlassen oder die polnische Staatsangehörigkeit anzunehmen. In der Kreisstadt Stuhm wurde ein Zug eingesetzt, der bis Stettin ging. Hier wurden 11 Tage lang alle Personen untersucht, ehe der Transport nach Westen über Lübeck mit Ziel Köln weiterging. Onkel Erich, der Kreistierarzt in Lübeck, holte dort seine Eltern vom Zug ab, ließ  aber Mutter Elfriede mit ihren Kindern im Zug zurück, weil Lübeck Aufnahmestopp hatte. Wegen einer Erkrankung, die sich als Windpocken herausstellte, kamen die drei aber in ein Hilfskrankenhaus. Über verschiedene Stationen fanden sie Unterkunft in einem Zimmer in Lübeck. Angefragt von Herrn Penner und Herrn Dr. Wiebe wurde im St-Gertrud-Gemeindehaus der ev. Kirchengemeinde, der Onkel Erichs Frau angehörte, 1948 mit Hilfe von Spenden das Weihnachtsfest der Mennoniten gefeiert. In der Folgezeit kamen Reiseprediger wie Albert Bartel und Hans Joachim Wieler. C. F. Klasen vom MCC informierte über Ausreise nach Nord- oder Südamerika. Die Familie Harms blieb in Lübeck, weil die Nachricht vom Tod des Vaters Herbert Harms am 13.10.1945 in Krasny-Bor bei Smolensk erst Jahre nach Kriegende eintraf.

Zusammen mit dem MCC wurde die Siedlung Dornbreite gebaut, davon eine Doppelhaushälfte für Mutter Elfriede und ihre Kinder. Verschiedene Jugendfreizeiten förderten den Zusammenhalt der mennonitischen Kinder. Nach ihrer Taufe und der ihres Bruders 1957 nahm Sigrid als Helferin an Kinderbibelfreizeiten teil. Material, entwickelt vom MCC in Basel, führte im Lauf der Jahre durch die ganze Bibel. Es entstand ein Freundeskreis, der sich über Kinder und Enkelkinder bis heute fortsetzt. Die Segnungen des MCC weiterzugeben ist Sigrid Wiebe ein großes Anliegen, dem sie u. a. über den EMEK 1971-1977 als Ärztin in Indonesien nachgekommen ist.

Weitere Informationen gibt es bei Sigrid Wiebe unter u.s.wiebe@t-online.de

An den Montagen 03.07. und 07.08.2023 ist Sommerpause.

Weiter geht es am Montag, dem 04.09.2023: Rosalind Beiler von der University of Central Florida, Dept. History, wird über den Fortgang ihres Projektes PRINT berichten. Darin geht es um eine wissenschaftliche Auswertung von Briefen aus dem 17. und 18. Jahrhunderte in Europa und Amerika, darunter auch Briefe von Täufern/Mennoniten. Ziel ist, mehr über die Kultur in der Zeit der frühen Einwanderung zu erfahren. Rosalind und ihre Mitarbeiterin Amy werden mit den Teilnehmenden wieder das Lesen alter Schriften üben, das am 03.10.2022 schon einmal viel Vergnügen bereitete.

Weitere Infos unter https://www.mennonitischer-geschichtsverein.de/mennonitische-familienforschung-per-zoom/

One thought on “Von Westpreußen bis Lübeck: Familiäre Reise durch die Geschichte”

Comments are closed.