GENF – Der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) will in Zukunft seine Entscheidungen im Konsens treffen. In einer der letzten Abstimmung seiner diesjährigen Tagung hat der Zentralausschuss, das höchste Gremium des ÖRK zwischen den Vollversammlungen, das Konsensverfahren als neue Methode der Beschlussfassung angenommen. Was bedeutet das für die Handlungsfähigkeit des ÖRK? Experten erwarten eine grundsätzliche Veränderung der Gesprächs- und Arbeitskultur.

Werden strittige Themen beim ÖRK in Zukunft ganz unter den Tisch fallen, um den Konsens nicht zu gefährden? – „Im Gegenteil“, sagt Eden Grace, Zentralausschuss-Mitglied von der Religiösen Gesellschaft der Freunde (Quäker) in den USA, einer Gemeinschaft, die bereits seit 300 Jahren Erfahrungen mit entsprechenden Verfahren sammelt. „Ich hoffe, dass mehr kontroverse Themen zur Sprache kommen werden. Niemand braucht jetzt mehr zu befürchten, dass er durch eine Abstimmung in die Enge getrieben wird.“ Nach Ansicht von Eden Grace ist nun ein sicherer Rahmen geschaffen worden, in dem auch Themen wie z.B. Homosexualität diskutiert werden können. „Abstimmungen sind nun häufig gar nicht mehr erforderlich“, sagt sie. „Vielmehr können beschreibende Texte erarbeitet werden. Dabei braucht uns die Verschiedenheit der Kirchen und ihrer Positionen nicht zu trennen.“

In der Vergangenheit habe es beim ÖRK häufig Minderheitsvoten der orthodoxen Mitgliedskirchen gegeben, erläutert Anne Glynn-Mackoul, griechisch-orthodoxes Mitglied des Zentralausschusses. „Debatten im ‚parlamentarischen Stil‘ führen zu einer Atmosphäre des ‚Dafür oder Dagegen‘, statt Kooperation zu fördern.“ Eden Grace und Anne Glynn-Mackoul haben beide in der Sonderkommission zur orthodoxen Mitarbeit im ÖRK mitgearbeitet. Diese Kommission war es, die in ihrem Abschlussbericht 2002 empfohlen hat, Abstimmungen nach dem Mehrheitsprinzip im ÖRK durch ein Konsensverfahren zu ersetzen.

Doch erhält dadurch nicht jede einzelne Mitgliedskirche ein Veto-Recht im ÖRK? – „Nein“, sagt Eden Grace, „jeder hat das Recht, angehört zu werden. Es gibt aber kein Recht auf Verschleppungstaktik.“ Auch in Zukunft kann eine Mehrheit von 85 Prozent jederzeit eine Abstimmung einfordern. Ausgenommen sind lediglich Themen, die das Selbstverständnis der Kirchen betreffen.

Konsens kann also nicht einfach mit Einmütigkeit gleichgesetzt werden. Eine grosse Mehrheit kann weiterhin eine kleine Minderheit überstimmen, wenn diese akzeptiert, dass sie auf faire Weise angehört wurde und deshalb einverstanden ist, dass der Konsens als Meinung der Versammelten festgehalten wird. An Aktivitäten und Programmen, die sich aus diesem Beschluss ergeben, muss sich die Minderheit dann nicht unbedingt beteiligen. Dies ist eine Anpassung der Spielregeln an die Realität, denn keine Mitgliedskirche kann dazu gezwungen werden, einen ÖRK-Beschluss umzusetzen.

> Der Konsens will geübt sein

„Wir werden alle noch viel Training benötigen“, sagt D’Arcy Wood, ehemaliger Synoden-Vorsitzender in der Unionskirche in Australien, die bereits vor 10 Jahren das Konsensverfahren übernommen hat. „Das ist kein Lichtschalter, der einfach umgelegt wird“, sagt er. „Es erfordert eine Veränderung der Einstellung und Gewohnheiten beim Herbeiführen von Entscheidungen.“

Ein Handbuch zum Konsensverfahren soll allen Beteiligten helfen, sich in den neuen Umgang und die neuen Methoden einzufinden. Ausserdem hat der Zentralausschuss auf seiner diesjährigen Tagung bereits begonnen, das Konsensverfahren einzuüben. Dafür wurde D’Arcy Wood vom ÖRK als Trainer zur eingeladen.

Die Frage, die er am häufigsten beantworten musste, war: „Was passiert, wenn die Verhandlungen festgefahren sind?“ Für diesen Fall sehen die neuen Regeln mehrere Möglichkeiten vor: Das strittige Thema kann vertagt und in kleineren Gruppen weiter verhandelt werden. Die Versammlung kann sich durch Schweigen oder Gebet eine Atempause verschaffen. Ein Bericht kann die unterschiedlichen Positionen aufnehmen. Oder die Versammelten können festhalten, dass eine Einigung zu diesem Zeitpunkt nicht möglich ist. Dann muss die Diskussion über das strittige Thema zukünftig bei anderen Gelegenheiten fortgesetzt werden.

Entscheidungen im Konsensverfahren sind also sehr zeitaufwendig? – „Ja“, sagt Anne Glynn-Mackoul, die bei den notwendigen Veränderungen von Verfassung und Satzung des ÖRK ihre Erfahrung als Anwälten in den USA eingebracht hat. „Unsere Tagesordnungen müssen in Zukunft gestrafft werden.“ Hier zeigt sich die besondere Herausforderung, die das neue Konsensverfahren vor allem für die jeweiligen Vorsitzenden einer Versammlung bedeutet.

> Blaue und orangfarbene Karten als Stimmungsbarometer

Für Verwirrung unter den Mitgliedern des Zentralausschusses sorgten zu Beginn vor allem die neuen „Tendenzkarten“. Dazu das Handbuch: Wenn Mitglieder dem Verlauf einer Sitzung mit „Aufgeschlossenheit oder Zustimmung“ folgen, können sie dieses der Vorsitzenden durch eine orangefarbene Karte signalisieren. „Distanz oder Ablehnung“ wird durch blaue Karten signalisiert. Wenn während eines Redebeitrags die Delegierten anfangen, beide Karten in Brusthöhe zu halten, weiss die Vorsitzende, dass eine weitere Debatte nicht mehr hilfreich ist. Manche Mitglieder des Zentralausschusses waren besorgt, dass ihnen genau dieses passieren könnte, wenn sie gerade an einem der Saalmikrofone stehen. Doch die ersten Erfahrungen im Plenum waren durch eine sehr offene und freundschaftliche Atmosphäre geprägt.

Zum Abschluss der diesjährigen Tagung nahmen die Mitglieder des Zentralausschusses am vergangenen Dienstag das Konsensverfahren einstimmig an. Somit hat es für die Vorbereitung und Durchführung der ÖRK-Vollversammlung im Februar 2006 in Porto Alegre, Brasilien, bereits Gültigkeit. Da die praktischen Erfahrungen noch fehlen, lässt sich zu diesem Zeitpunkt nicht sagen, wohin das Konsensverfahren den ÖRK führen wird.

D’Arcy Wood ist durch seine Erfahrungen in Australien vom Erfolg überzeugt: „Dieses Modell ist beweglicher und flexibler. Es bezieht mehr Menschen in die Ausformulierung von Entscheidungen mit ein und führt dadurch zu wesentlich grösserer Zufriedenheit.“ Dadurch würden sich dann auch viel mehr Menschen aktiv an der Umsetzung von Entscheidungen beteiligen. Und genau dies erhofft sich der ÖRK, dass mehr Kirchen sich seine Arbeit zu eigen machen.

„Wir möchten, dass die Kirchen der Welt einen umfassenden, offenen und ehrlichen Austausch miteinander führen“, sagt Anne Glynn-Mackoul. Der ÖRK in seiner Funktion als Versammlungstisch der Kirchen, an dem auch soziale, politische und moralische Fragen verhandelt werden können, ohne dass die Vielfalt der Beiträge die Kirchen trennt oder spaltet, sondern sie statt dessen gegenseitig bereichert.

Autor: Friedrich Degenhardt. Theologe und Journalist (DJV) und arbeitet als Sondervikar der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche (Deutschland) in der Pressestelle des Ökumenischen Rates der Kirchen in Genf.

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