BERLIN – „Armes reiches Deutschland“ – unter diesem Titel legen 26 kirchliche Herausgeber erstmals ein Jahrbuch Gerechtigkeit vor. Mit diesem Jahrbuch erinnern die Herausgeber, darunter auch die Arbeitsgemeinschaft Mennonitischer Gemeinden in Deutschland (AMG), daran, dass trotz aller wirtschaftlichen und sozialen Probleme Deutschland ein reiches Land ist, das die Ressourcen zur Bewältigung seiner Probleme hat.
Hierauf verwies Kirchenrat Henry von Bose vom Vorstand des Diakonischen Werkes Württemberg bei einer Pressekonferenz am 7. November 2005, bei der das Jahrbuch Gerechtigkeit der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. „Fünf Jahrzehnte Wirtschaftswachstum mit nur kurzen Rezessionen zeugen von der Stärke unserer Volkswirtschaft und sind eine wertvolle Frucht des Sozialstaats. Dies insbesondere auch auf dem Hintergrund der historischen Leistung der Wiedervereinigung (die allerdings noch lange nicht am Ziel ist)“, erklärte der Vertreter der Diakonie. Zugleich betonte von Bose, dass Deutschland international wettbewerbsfähig und privater Reichtum seit Jahrzehnten gewachsen sei. Problematisch sei aber, dass das „Wachstum hat eine gefährliche soziale Schlieflage bekommen“ habe. „Wachsender Reichtum erzeugt wachsende Armut, die Kluft zwischen Arm und Reich reißt immer schneller auseinander“, so der württembergische Kirchenrat weiter. Zugleich kritisierte von Bose, dass „gekürzte Sozialleistungen immer weniger vor Armut“ schützten: „Das neue Arbeitslosengeld II führt bis zu 32% unter die Armutsrisikogrenze und bis zu 18% unter die relative Armut.“
Doch trotz seiner wirtschaftlichen Stärke und trotz allen Reichtums werde „der Zustand der deutschen Gesellschaft ständig schlechtgeredet“, erklärte Präses Alfred Buß von der Evangelischen Kirche von Westfalen und meinte: „Das haben die Menschen in unserem Land nicht verdient!“ Nach Ansicht des leitenden Geistlichen der westfälischen Kirche komme es darauf an, „Alternativen politischen Handelns zurück zu gewinnen und auch mit widersprüchlichen Interessen transparent umzugehen“. Deshalb falle das Jahrbuch Gerechtigkeit „der beliebten Rede von alles beherrschenden Sachzwängen ins Wort – in Kenntnis der unbestreitbar großen Probleme, denen wir in einer globalisierten Welt gegenüber stehen“. Zugleich stelle sich das Jahrbuch Gerechtigkeit mit seiner Frage nach der gesellschaftlichen Verantwortung von Reichtum in eine lange kirchliche Tradition: „Die gegenwärtige Suche nach einer Verpflichtung von Reichtum auf seine gesellschaftliche Verantwortung kann sich auf eine mehr als 1200-jährige Auseinandersetzung und Reflexion in den biblischen Überlieferungen des Alten und des Neuen Testamentes berufen“, erklärte der Präses, der sich für eine Überwindung der Kluft „zwischen Reichtum und Armut“ aussprach.
Denn im Mittelpunkt allen Wirtschaftens müsse der Mensch stehen, so die Bischöfin der Evangelisch-methodistischen Kirche in Deutschland, Rosemarie Wenner. Sie kritisierte, dass „die gegenwärtige Debatte über die soziale und wirtschaftliche Zukunft Deutschlands mitunter den Eindruck erweckt, dass der einzelne Mensch mit seinen Bedürfnissen, Hoffnungen und Wünschen weniger wichtig sei als der Markt mit seinen Gesetzen“. Im Gegensatz hierzu forderte die methodistische Bischöfin: „Der Markt soll den Interessen der Menschen dienen und nicht umgekehrt.“ Deshalb auch betonten die „Herausgeber des Jahrbuches Gerechtigkeit die grundlegende Bedeutung des Leitbildes sozialer Gerechtigkeit. Dabei ist Verteilungsgerechtigkeit nach wie vor von zentraler Wichtigkeit. Wir beobachten mit Sorge, dass sich die Politik mehr und mehr von diesem Aspekt verabschiedet“. Bischöfin Wenner hob hervor: „Wir brauchen die Einsicht, dass wir nur dann gut leben können, wenn der Reichtum der einen nicht auf Kosten der Armut der anderen basiert. Das gilt übrigens weit über den Horizont des Nationalstaates hinaus.“
Deshalb sei es gut, dass sich das Jahrbuch Gerechtigkeit der ökumenischen Bewegung verpflichtet wisse, so Klaus Heidel von der Werkstatt Ökonomie, der zugleich als Geschäftsführer des Jahrbuches Gerechtigkeit fungiert. „Dieser weite ökumenische Horizont ist heute wichtiger denn je. Denn die Schieflagen der deutschen sozial- und wirtschaftspolitischen Auseinandersetzung erklären sich zum Teil auch dadurch, dass tagespolitische Aufgeregtheit den Blick über die Grenzen unseres Landes verstellt. Da kommt es dann rasch zu falschen Akzentuierungen. Ein Beispiel nur: Wer aus einem afrikanischen Land nach Deutschland kommt, kann überhaupt nicht verstehen, weshalb die Auseinandersetzungen in unserem Lande so geführt werden, als stünde Deutschland kurz vor dem Ruin. Aus afrikanischer Perspektive ist Deutschland natürlich unglaublich reich – ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten“, so Heidel. Daher frage das Jahrbuch Gerechtigkeit in ökumenischer Perspektive nach der Verantwortung von Reichtum angesichts verbreiteter Armut weltweit. Laut Heidel sollen die regionalen Schwerpunkte des Jahrbuches wechseln. So werde sich das nächstjährige Jahrbuch Gerechtigkeit mit entwicklungspolitischen Fragen beschäftigen.
Zu den 26 Herausgebern des Jahrbuches Gerechtigkeit gehört die Arbeitsgemeinschaft Mennonitischer Gemeinden in Deutschland, drei evangelische Landeskirchen, vier diakonische Werke, die Evang.-methodistische Kirche, kirchliche Entwicklungshilfeorganisationen, kirchliche Forschungseinrichtungen und ökumenischen Organisationen. Verlegt wird das Jahrbuch von der Frankfurter Rundschau und dem Publik Forum.
Armes reiches Deutschland. Jahrbuch Gerechtigkeit I Preis: € 13,90; Verlag: Publik-Forum; 256 Seiten |