Im April 2023 trafen sich etwa 40 Studierende, Lehrende und Forschende aus den Niederlanden, Österreich, Deutschland, Frankreich, Schweiz und Kanada zum Europäischen Mennonitischen Studierendentreffen (European Mennonite Students of Theology Meeting) am Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte. Die Veranstaltung wurde in Kooperation mit der Arbeitsstelle Theologie der Friedenskirchen der Universität Hamburg und dem Doopsgezind Seminarium der Freien Universität Amsterdam durchgeführt und hatte die Auseinandersetzung zur Diversität der Erinnerungskultur innerhalb der globalen täuferisch-mennonitischen Gruppe zum Ziel.

Keine gemeinsame „mennonitische Erzählung“

Das Thema „Erinnerungskultur“ beschreibt ein weites Feld. Sie gibt Einblicke in historisch gewachsene Identitäten und in das aktuelle Selbstverständnis von Individuen und Gruppen. Die Lehrbeauftragte an der Universität Hamburg (Arbeitsstelle Theologie der Friedenskirchen) und Leiterin der Mennonitischen Forschungsstelle in Weierhof Astrid von Schlachta betonte, wie viele Facetten der Begriff „Erinnerungskultur“ besitzt. „Wir können uns nicht nur auf einer individuellen Ebene erinnern, sondern auch als Gruppe, Nation oder Kultur“, sagte von Schlachta. „Dabei ist auffällig, dass es keine gemeinsame mennonitische Erzählung gibt.“ Diese Vielfalt an mennonitischer Erinnerungskultur betonten auf vertiefender Ebene die Historikerin Mirjam van Veen und Theo Brok. Van Veen zeigte in ihrer historischen Analyse auf, dass in der Gegenwart die Wehrlosigkeit der Mennoniten betont werde, aber zu Beginn und im Verlauf der weiteren Entwicklung der Mennoniten es recht konträre und widersprüchliche Aussagen zur Wehrlosigkeit gab. Brok stellte in seinem Vortrag „Menno Simons as a Mennonite Hero“ (Menno Simons als mennonitischer Held) die These auf, dass Simons (nur) ein täuferischer Wanderprediger aus der Mitte des 16. Jahrhunderts war, der später durch seine Schriften bekannt wurde. Dementsprechend wurde er in späterer Zeit zum Helden und Namensgeber der Mennoniten und fand einen zentralen Eingang in die mennonitische Erinnerungskultur.

Russlanddeutsche Erinnerungskultur in mennonitischen und baptistischen Gemeinden

Nicht ohne Grund fand das Treffen im Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold statt. Im Detmolder Raum gibt es viele Christen mit russlanddeutschem Hintergrund und täuferischem Bekenntnis. Die Literaturwissenschaftlerin Lilli Gebhard stellte in ihrem Vortrag das Heimatverständnis der russlanddeutschen Mennoniten vor, worüber sie promoviert wurde. Sie untersuchte etwa 300 Texte von Russlanddeutschen, die im Zeitraum von 1970 bis 2010 entstanden sind. Gebhard wies darauf hin, dass „Heimat in diesen Texten nicht räumlich lokalisierbar ist. Heimat ist dort, wo man sich mit Glaubenden auf den Himmel freuen kann. Wenn Heimat als Ort nämlich in der damaligen Sowjetunion durch Deportation und Vertreibungen unmöglich gemacht wird, was bleibt denn dann noch anderes übrig?“ Über Baptistengemeinden in der späten Sowjetunion sprach die Historikerin Nadezhda Beliakova in ihrem Vortrag. Sie analysierte die christlichen Gemeinschaften in der UdSSR und interpretierte diese Zugehörigkeit zu einer illegalen Baptistenbewegung als eine Form des religiösen Aktivismus. Ihr fielen dabei geschlechtsspezifische Besonderheiten in der Erinnerungskultur auf. Der Aktivismus der Männer zielte auf die Aufrechterhaltung der Stabilität innerhalb der christlichen Gemeinschaft ab. Der Aktivismus der Frauen hingegen bestand oft darin, den männlichen Aktivismus in der Außenwelt zu unterstützen und ihre Sichtbarkeit zu erhöhen. Dabei wird die Unsichtbarkeit der Frauen im religiösen Aktivismus nicht nur als Teil patriarchalischer Dominanz, sondern auch als Teil weiblicher Frömmigkeit interpretiert.

Politischer und religiöser Widerstand in Russland

Beliakova überzeugte nicht nur durch ihren Vortrag, sondern auch durch ihre Biografie. Sie selbst konnte bis letztes Jahr ungestört in Moskau zum religiösen Widerstand in der späten Sowjetunion forschen und lehren. Jedoch erschwerte sich die Lage von ihr und ihrer Familie, als sie sich gemeinsam mit ihrem Mann an Protestbriefen und ihre Tochter an Straßenaktionen gegen den Krieg in der Ukraine beteiligten. Seit Juni 2022 entschied sich die Familie das Land zu verlassen. Sie wohnen gegenwärtig in Lippe und vernetzen sich im deutschsprachigen Raum mit Osteuropa- und Freikirchenforschern.